In der islamisch-sunnitischen Dogmatik, der ca. 80% aller Muslime folgen, wird der Koran als das ungeschaffene Wort Allahs betrachtet.
Nun ist es mit den Versen des Korans, wie er uns heute als gebundenes Buch vorliegt jedoch nicht so einfach, denn es gibt verschiedene Arten von Versen:
- Verse, die im Koran stehen und eine islamrechtliche Bedeutung haben
- Verse, die im Koran stehen, aber keine islamrechtliche Bedeutung haben
- Verse, die im Koran nicht stehen, aber eine rechtliche Bedeutung haben
- Verse, die im Koran nicht stehen und keine rechtliche Bedeutung haben
Dafür, dass der Islam den Jugendlichen als klares eindeutiges Glaubenssystem verkauft wird, ist das schon recht komplex. Aber diese Komplexität wird natürlich wissentlich oder aus eigener Unwissenheit heraus verschwiegen.
Lassen Sie mich für jede Versart ein Beispiel nennen, um Lichts ins Dunkel zu bringen.
Zu 1) Ein Vers, der im Koran steht und noch eine islamrechtliche Bedeutung hat ist z.B. Vers 38 aus der 5. Sura: „Der Dieb und die Diebin: trennt ihnen ihre Hände ab als Lohn für das, was sie begangen haben, und als ein warnendes Beispiel von Allah. Allah ist Allmächtig und Allweise.“ Auch heute noch wird dieses Urteil vollzogen.
Zu 2) Ein Vers, der im Koran stehen, aber aus sunnitischer Sicht keine islamrechtliche Bedeutung mehr hat, ist der Vers der Genussehe aus Sure 4.24: „Und (verboten sind euch) von den Frauen die verheirateten‘, außer denjenigen, die eure rechte Hand besitzt [Sklavenmädchen, Kriegsgefangene Frauen, d.V.]. (Dies gilt) als Allahs Vorschrift für euch. Erlaubt ist euch, was darüber hinausgeht, (nämlich) daß ihr mit eurem Besitz (Frauen) begehrt zur Ehe [Unterstellung unter euren Schutz, d.V.] und nicht zur Hurerei (Frauen). Welche von ihnen ihr dann genossen habt, denen gebt ihren Lohn als Pflichtteil. Es liegt aber keine Sünde für euch darin, daß ihr, nachdem der Pflichtteil (festgelegt) ist, (darüberhinausgehend) euch miteinander einigt. Gewiß, Allah ist Allwissend und Allweise.“
Dieser Vers ist als Genussehe in der islamischen Theologie bekannt. Es war nach sunntischer Theologie zu einer bestimmten Zeit erlaubt gewesen eine Frau für einen kurzen Zeitraum zu ehelichen, mit ihr sexuell zu verkehren und sie anschließend dafür zu bezahlen. Im Deutschen nennen wir das Prostitution. Nach sunnitischer Glaubenslehre war dieser Vers allerdings nur bis zu einer bestimmten Zeit in der Geschichte gültig. Anschließend wurde er rechtlich außer Kraft gesetzt, ist aber weiterhin im Koran nachzulesen. Die Schiitin kennen diese Art des Umgangs mit Koranversen nicht. Für Sie ist der Vers immer noch gütig, weshalb es diese Genussehen auch heute noch z.B. im Iran gibt. Dafür werden Sie heute medial von den Sunniten lächerlich gemacht – sehr ironisch.
Zu 3) Ein Vers, der im Koran nicht mehr steht, aber noch eine rechtliche Bedeutung hat ist der berühmte Vers der Steinigung von Ehebrechern. Er ist heute nicht mehr im Koran nachlesbar, wurde aber durch Hadithe überliefert. Er lautet: „Der alte Mann (Sheikh) und die alte Frau (Sheikhah), wenn sie Unzucht begehen, dann steinigt sie wahrhaftig [bis zum Tode].“ In einem als authentisch betrachteten Hadith bei Sahih Al-Bukhary lesen wir zudem: „Omar sagte: ich habe befürchtet, dass die Menschen eine Zeit erleben, in der jemand sagt, wir finden die Steinigung nicht im Buche Allahs, so werden sie in die Irre gehen wegen der Auslassung einer religiösen Pflicht, die Allah herabsandte. Wahrlich, die Steinigung ist ein Urteil gegen jemanden, der Unzucht begeht und verheiratet ist, wenn der Beweis erbracht wird oder die Schwangerschaft eingetreten ist oder die Schuld eingestanden wird. Sufyan sagte: So habe ich es behalten und wahrlich, der Gesandte Allahs steinigte und auch wir steinigten nach ihm.“ In der berühmten Hadith-Exegese Fath Al-Bari von Ibn Hajar al-3asqalany ist zur Erklärung dieses Hadithes und zur Begründung, dass dieser Vers nicht in den gebundenen Koran (Mushaf) übernommen wurde, folgendes zu lesen: „Die Erklärung zum Grund der Auslassung [des Verses] ist die Uneindeutigkeit. So hat Al-Haakim über Kathir bin Al-Ssalat berichtet, dass er sagte: Zaid Bin Thabit und Sa3id Bin Al-3aass schrieben beide am Mushaf (dem gebundenen Koran) und kamen an die Stelle dieses Verses, da sagte Zaid: ich hörte den Gesandten Allahs sagen: ‚Der alte Mann (Sheikh) und die alte Frau (Sheikhah), steinigt sie wahrhaftig.‘ Da sagte Omar: als dieser Vers herabgesandt wurde, kam ich zum Propheten und sagte: soll ich ihn aufschreiben? Es war, als würde er es verabscheuen. Da sagte Omar: Meinst du nicht etwa, dass der alte Mann, wenn er Unzucht begeht und nicht verheiratet ist ausgepeitscht wird, und dass ein junger Mann, wenn er Unzucht begeht und Verheiratet ist gesteinigt wird.“ Al-3asqalany schreibt im Anschluss an diesen Bericht weiter: Der Nutzen dieses Hadith ist also die Begründung der Auslassung des Verses, da die Ausführung im Allgemeinen nicht nach dem äußeren Schein der Worte erfolgt. (Quelle: http://library.islamweb.net/newlibrary/display_book.php?bk_no=52&ID=3737&idfrom=12408&idto=12562&bookid=52&startno=53#docu)
In der Tat, der Koranvers war wirklich schlecht formuliert, denn das Kriterium ist ja, der Familienstand und nicht das Alter. Man hat sich also der schlechten, unsauberen und uneindeutigen göttlichen Formulierung entledigt und lediglich das klar verständliche religiöse Urteil beibehalten.
Zu 4) Nun zur letzten Versart: Verse, die im Koran nicht stehen und keine rechtliche Bedeutung haben:
Der in der sunnitischen Welt anerkannt und hochgeehrte Korangelehrte Jalal Ad-Din As-Suyuty aus dem 15. Jh. hat folgenden Hadith in seinem Buch „Al-Itqan fi 3ulum Al-Quran“ zur Erklärung von Sure 33 Al-Ahzab (die Gruppierungen) aufgeführt. Auch in dem Korankommentar des Exegeten Al-Qurtuby ist dies zu finden: „Über Aisha wird berichtet, dass die Sura Al-Ahzab (33) zur Zeit des Propheten mit 200 Versen gelesen wurde.“ Heute umfasst diese Sure genau 73 Verse. Mehr als die Hälfte der Verse, die zu Zeiten des Propheten Mohammed im Koran gelesen wurden, haben es also nicht in die gebundene Ausgabe des Korans geschafft, die wir heute in den Händen halten können.
In einer anderen Überlieferung, die auch wieder die bereits genannten Gelehrten in ihren Büchern zur Koranexegese aufführen heißt es: Über Omar und Ubay Bin Ka3b und 3ikrimah und Ibn 3Abbas wird überliefert, dass die Sura Al-Ahzab ungefähr so lang war wie Al-Baqara [Sure 2, die Kuh, die heute genau 286 Verse umfasst] oder sogar länger war. Und in ihr war auch der Steinigungsvers zu finden [den wir eben schon besprochen haben].
Ein anderes Beispiel aus einem Hadith von Sahih Muslim: Es wurde über Abi Musa Al-Ash3ary überliefert, dass er zu den Koranlesern in Basra sagte: Wir lasen eine Sure, die in der Länge und Stärke ähnlich war wie die Sure Bara’a [ein anderer Name für die Sure 9], doch ich habe sie vergessen, außer dass ich noch folgendes von ihr behalten habe: „Hätte der Sohn Adams [der Mensch] zwei große Täler aus Geld, dann würde er sich noch ein drittes wünschen und nichts füllt den Rachen des Sohnes Adams, außer der Staub.“ Ein sehr schöner Vers, der es leider nicht in den Koran geschafft hat. Zu bemerken ist hier noch, dass der klassische Hadithgelehrte Anawawy in seinem Kommentar zu dem Hadithbuch von Muslim einen anderen Hadith anführt, nachdem es den Muslimen um Mohammed herum nicht ganz klar war, ob es sich bei dem besagten Textstück wirklich um einen Koranvers handelte oder ob es nicht einfach ein Ausspruch Mohammeds war.
Wichtig noch zu erwähnen ist, dass in den klassischen sunnitischer Koranexegesen Gewaltverse die friedlichen Verse ablösen. Ibn Taymiya diskutiert diese Tatsache auch und kommt auf folgenden Schluss. Es gibt zwei Meinungen: der einen Meinung nach hat der Schwertvers aus Sure 9.5 die friedlichen Verse überschrieben. Es gelten somit nur noch die Gewaltverse. Nach einer anderen Gelehrtenmeinung sollen sich die Muslime in jeder Lebenslage so verhalten wie sich der Prophet Mohammed verhalten hat. Wenn sie schwach sind, dann verhalten sie sich wie Mohammed sich in zeiten der Schwäche verhalten haben. Wenn sie an Macht gewinnen, dann verhalten Sie sich wie Mohammed in vergleichbarer Situation verhielt. Somit sind friedfertige wie gewaltaufrufende Verse je nach Situation der Muslime gültig. Dieser Meinung folgt auch Ibn Taymiyya. Mehr dazu ist in der Schrift von Ibn Baz zu lesen, die ich übersetzt hatte und die nun im Internet unter dem Titel „Der Jihad dient nicht nur der Verteidigung“ zu finden ist.
Von den sunnitischen Islamgelehrten wird die grundsätzliche Aufhebbarkeit von Versen mit folgendem Koranvers begründet (Sure 2.106): „Was Wir an Versen aufheben oder in Vergessenheit geraten lassen – Wir bringen bessere oder gleichwertige dafür. Weißt du denn nicht, daß Allah zu allem die Macht hat?“